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Interview mit Bethels Vorstandsvorsitzendem Pastor Ulrich Pohl
Die Welt versinkt zunehmend in Krieg, Terror, Angst und Schrecken. Während früher internationale Konflikte für die, die im sicheren und friedlichen Europa lebten, meist weit weg erschienen, werden nun die Folgen der Kriege auch unmittelbar bei uns spürbar. Wirtschaftlicher Abschwung, Energiekrisen, humanitäre Notlagen, Flüchtlingswellen, gesellschaftliche Spannungen, Verteilungskämpfe, militärische Bedrohungen – im Interview sprach Pastor Ulrich Pohl über die Frage, ob in Zeiten wie diesen die christlichen Botschaften des Friedens und der Liebe überhaupt noch Gehör finden können.
Herr Pohl, die Jahreslosung 2024 lautet: Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe (Korinther 16,14). Was verbinden Sie mit dieser Losung?
Für mich ist das eine Zielvorgabe, die uns Christus gegeben hat: Alles möge aus Liebe geschehen. Leider ist das ist nicht unsere Realität.
In den Machtzentren spielen Begriffe wie Nächstenliebe und Friedfertigkeit derzeit kaum eine Rolle. Ist die Losung also naiv in Zeiten wie diesen?
Nein, sie ist notwendiger denn je. Wir erleben, dass die Liebe sehr wenig beachtet wird, in der Weltpolitik jedenfalls. Die Diakonie ist eine Einrichtung, die sich für die Nächstenliebe einsetzt. Die sich um benachteiligte Menschen kümmert, wohnungslose Menschen, Menschen mit Behinderungen, um Menschen, die am Rand der Gesellschaft große Schwierigkeiten haben, Zugänge zu bekommen. Für uns in Bethel arbeiten fast 25.000 Menschen. Sie geben ihre Lebenszeit, um sich an dieser Stelle für ihre Mitmenschen einzusetzen. Und das in einer Zeit, die nicht nur wirtschaftlich herausfordernd, sondern besonders auch in der Personalbesetzung schwierig ist. Das verdient wirklich großen Dank.
Die Weltlage ist allerorten von aufflammendem Hass geprägt. In Israel und im Gazastreifen ist die Lage schlimmer denn je. Wie haben Sie die Schreckensbilder vom 7. Oktober erlebt?
Das war ein mörderischer Überfall von der Hamas in einem Gebiet, das schon vorher natürlich sehr unruhig war. Aber für diesen Überfall gibt es keine politische Rechtfertigung. Es war einfach entsetzlich zu sehen, dass kleine Kinder, Frauen, Männer, alte Menschen schlicht und einfach erschossen wurden, geköpft wurden, entführt wurden und viele dann über Monate in Geiselhaft gelebt haben. Und auf der anderen Seite gibt es die Opfer des Krieges innerhalb Palästinas. Das alles ist erschütternd.
Haben Sie persönliche Verbindungen zu Israel?
Es gibt einige Verbindungen. Wir hatten zuletzt den Bischof von Jerusalem hier in Bethel, der von seinen Nöten berichtet hat. Seine Tochter wurde hier bei uns in Nazareth zur Diakonin ausgebildet und auch eingesegnet. Ich staune über diese Menschen, mit welchen großem Mut und mit welch brennender Liebe sie weiter dort tätig sind.
Israels Antwort auf den Terror erfolgt mit aller Härte und Tausenden von Toten. Muss die Welt den Wunsch nach Vergeltung und Rache akzeptieren?
Die Welt kann den Wunsch nach Rache und Vergeltung niemals akzeptieren. Das hat auch unser Bundespräsident deutlich gemacht, dass auch für die Menschen in Palästina Menschenrechte gelten, dass das Völkerrecht gilt, auch bei Angriffen Israels. Ich kann verstehen, warum Menschen in Israel so reagieren. Wenn meine Verwandten, Bekannten, Freunde verschleppt oder getötet worden wären, dann weiß ich nicht, wie weit ich meine Gefühle im Griff hätte, anders zu reagieren. Aber man muss dennoch jetzt mit kühlem Kopf versuchen, wieder Wege des Friedens zu finden. Aber eines Friedens, der so etwas nie wieder zulässt.
Der aufflammende Antisemitismus ist in Deutschland spürbar. Hätten Sie das fast 80 Jahre nach Kriegsende für möglich gehalten?
Antisemitismus hat es immer gegeben, ob das nun fünf oder sieben oder neun Prozent der Bevölkerung waren. Dass politisch Rechte sich antisemitisch äußern oder politisch Linke sich antisemitisch äußern, war immer ein deutsches Problem. Dass aber jetzt so viele Menschen aus dem arabischen Raum zu uns gekommen sind, die auch offen antisemitisch sind, macht das Problem noch größer.
Was folgert für jeden einzelnen daraus?
Wir müssen auf allen Ebenen und natürlich dort, wo Antisemitismus stattfindet, unsere Stimme erheben. Aus unserer Geschichte heraus haben wir diese besondere Verantwortung gegenüber Israel. Und man muss – ob das Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Polizistinnen und Polizisten sind – mit allen Rechtsmitteln unseres Staates Antisemitismus so stark wie möglich eindämmen, auch wenn er sich nie ganz beseitigen lässt. Wir müssen eines deutlich machen: Wer in Deutschland lebt, wer alle Vorteile unserer Gesellschaft in Anspruch nimmt, der muss auch die Grundregeln unseres Staates beachten.
Der Konflikt im Nahen Osten ist auch ein Konflikt zwischen den Religionen. Kann es überhaupt noch einen Weg zur Versöhnung geben?
Die christliche Botschaft ist ja eine Botschaft der Versöhnung. Und wir dürfen überhaupt nicht nachlassen, als Versöhnungsbotschafterinnen und -botschafter aufzutreten. Dass das im Moment schwierig ist, auch schwieriger als zu anderen Zeiten, würde ich sofort zugestehen. Aber welche Botschaft hätten wir denn sonst, um dort Versöhnung zu leben und Frieden in gewissem Maße zu bewegen? Wir haben nur diese eine Botschaft. Und Christus hat uns damit beauftragt. Dem müssen wir gerecht werden bei allen Rückschlägen, die wir immer wieder erleiden werden.
Im vergangenen Jahr gab es das Jubiläum des westfälischen Friedens. Ein Friedensschluss im Jahr 1648 nach 30 Jahren blutigsten Gemetzels. Kann man aus der Geschichte lernen?
Man kann lernen, dass man in Verhältnissen, wo man eigentlich nicht mehr an Frieden zu denken wagt, trotzdem diese Botschaft leben und auch Friedensverhandlungen führen kann. Das passierte damals in Münster und Osnabrück, während die Kämpfe fortgeführt wurden. Man muss aber auch Realist bleiben. Das gehört beides zusammen, finde ich.
Im Moment wird jeder diplomatische Versuch als Einknicken vor dem Aggressor gebrandmarkt. Im Nahen Osten wie auch im Ukrainekrieg. Wer könnte überhaupt vermitteln?
Diese Konflikte werden uns noch lange begleiten, das ist keine Frage. Aber man erlebt jetzt, dass zum Beispiel Katar vermittelt. Ein Land, das von uns gerade im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft als schwieriges Land beschrieben wurde. Katar hat Kontakte zur Hamas, hat andererseits auch zu Israel, zu Russland und der Ukraine und bemüht sich um gute Kontakte zu den USA. Es gibt also Länder im arabischen Raum, die versuchen, an dieser Stelle zu vermitteln. Auch Saudi-Arabien ist sehr nah dran, genauso wie Ägypten. Das sind alles schwierige Anfänge und wir werden aus westlicher Sicht vieles nicht verstehen, was und wie es abläuft. Aber wir dürfen unsere Botschaft von der Versöhnung nicht aufgeben.
Eigentlich müssten Kirchen in Zeiten der Krisen eine Anlaufstelle sein. Trotzdem schwinden das Vertrauen und die Bindung an die christlichen Kirchen. Wie erklären Sie sich das?
Ich erlebe Kirche im Moment als eine Beteiligte in der politischen Diskussion. Ich erlebe Kirche aber ganz generell gesprochen nicht als ein Ort des Trostes. Wo aus dem Evangelium heraus Zukunft aufgezeigt wird, wo aus dem Evangelium heraus Trost zugesprochen wird. Es sterben Menschen, deren Angehörigen bei Beerdigungen Trost benötigen. Es werden Kinder geboren, mit und ohne Einschränkung, wo seelsorgerliche Begleitung ganz wichtig ist. Ich merke, die Kirche kürzt jetzt an diesen Stellen, wo diese seelsorgerliche Begleitung sehr intensiv ist. Ich glaube, dass wir noch nicht erkannt haben, dass die Menschen genau an dieser Stelle wirklich Nähe suchen. Und ich finde es tragisch, weil sich Kirche nicht von politischen Diskussionen abhebt.
Was sagen Sie Menschen, denen angesichts der Weltlage die Zuversicht insgesamt verloren geht?
In vielen Fragen sind wir zurzeit an einem Punkt, wo Hoffnung verloren gehen kann. Wenn ich an die Umweltpolitik denke und erlebe, was Indien tut, was Russland tut, was China tut, was auch die USA tun, dann macht das nicht viel Hoffnung. Und wir Deutschen übernehmen uns auch gelegentlich mit unserer Rolle, wenn wir denken, alle müssten so leben wie wir. Das wird uns niemals gelingen. Aber wir haben natürlich einen gewissen Einfluss, und den sollten wir wahrnehmen.
Sie haben selbst ein kleines, einjähriges Enkelkind. Hat das ihre Sicht auf die Zukunft verändert?
Nicht prinzipiell, aber natürlich in der persönlichen Beziehung. Man fragt sich: In welcher Welt wird dieses Kind groß? Und das hat viel mit Frieden und Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu tun.
In Bethel geht es auch um soziale Nachhaltigkeit. Was ist damit gemeint?
Nachhaltigkeit hat mehrere Aspekte. Es sind die ökologischen Aspekte, die wirtschaftlichen Aspekte und die sozialen Aspekte. Nur wenn diese drei Aspekte auch entsprechend berücksichtigt werden, haben wir eine Chance, nachhaltig zu leben. Wir erleben zurzeit in unserer Politik, dass einzelne Aspekte immer etwas mehr zurückstehen und andere ein bisschen mehr in den Vordergrund rücken. Die sozialen Aspekte sind aber ein wichtiger Baustein, bei dem wir jetzt gerade als Bethel darauf achten müssen, dass er nicht verloren geht. Wir sehen das in der Krankenhaus-Politik, in der Kindergarten-Politik, in der Politik mit Wohnungslosen, mit Flüchtlingen. Soziale Nachhaltigkeit bedeutet, auch auf diese Menschen zu zählen. Wir müssen unsere Stimme für Menschen einsetzen, für die sich sonst nur ganz wenige einsetzen.
Die Staatsfinanzen sehen düster aus. Was bedeutet das für den sozialen Bereich?
Es gibt einige, die sagen, wir müssen im sozialen Bereich Abstriche machen. Abstriche halte ich für richtig, aber es muss das verantwortbare Maß sein. Wir müssen aufpassen, dass der Sozialstaat nicht hinten runterfällt. Aber ich muss auch sagen: Die staatliche Haushaltsführung der letzten Jahre war katastrophal. 270 Milliarden Euro Schulden zu machen, die auf die nächsten Generationen zurückfallen, auf unsere Kinder und auf unsere Enkel – das ist nicht verantwortbar. Und es gibt auch im wirtschaftlichen Bereich Ausgaben, die nicht vermittelbar sind, wenn wir über Subventionen reden. Eine Pendlerpauschale ist nötig, aber eine Kerosinsteuer zu erhöhen, wäre durchaus denkbar.
Welche Wünsche haben Sie an die Politik?
Meine Forderung wäre erst einmal, dass sich die Politikerinnen und Politiker mit Realismus ernsthaft zusammensetzen. Im Moment erlebe ich das nur wie ein Schaukampf beim Boxen. Jeder beharrt auf seiner Meinung und will nur beim anderen sparen. So werden wir nie weiterkommen. Alle müssen sich zusammensetzen und alle müssen miteinander überlegen, wo kann ich Abstriche machen und was kann ich dem anderen zumuten. Das sehe ich bis jetzt noch nicht.
Die Hospizarbeit ist auch in 2024 das Jahresspendenprojekt. Warum macht sich Bethel in einem Feld stark, obwohl es so unterfinanziert ist?
Weil wir es als unsere Verpflichtung sehen, dass wir uns für sterbende Menschen einsetzen. Niemand soll alleine sterben müssen, niemand soll unnötige Schmerzen leiden, niemand soll ohne Trostwort von dieser Welt gehen. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe für Kirche und auch für Diakonie. Wir setzen uns auch deshalb ein, weil wir den assistierten Suizid ablehnen. Wenn wir das tun, dann müssen wir auch mit unseren Hospizen ein Gegenmodell entwerfen.
Interview: Johann Vollmer | Fotos: Matthias Cremer