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Neue Studie: Lückenhafte Corona-Variante

Sie weisen nach, dass automatische Gen-Analysen von Sars-CoV-2 es systematisch übersehen, wenn Genabschnitte durch Mutationen verschwunden sind (v.li.): Dr. Christiane Scherer vom Evangelischen Klinikum Bethel, Prof. Dr. Jörn Kalinowski und Prof. Dr. Alexander Sczyrba, beide von der Universität Bielefeld.

Sie weisen nach, dass automatische Gen-Analysen von Sars-CoV-2 es systematisch übersehen, wenn Genabschnitte durch Mutationen verschwunden sind (v.li.): Dr. Christiane Scherer vom Evangelischen Klinikum Bethel, Prof. Dr. Jörn Kalinowski und Prof. Dr. Alexander Sczyrba, beide von der Universität Bielefeld. Foto: Sarah Jonek

Forschende des Centrums für Biotechnologie (CeBiTec) der Universität Bielefeld und des EvKB konnten jetzt in einer neuen Studie zeigen, dass bei gängigen Genom-Sequenzierungsverfahren von Sars-CoV-2 systematisch übersehen werden kann, wenn im Erbgut des Virus durch Mutationen Gen-Abschnitte verschwunden sind.

Wird eine COVID-19-Infektion nachgewiesen, wird im Labor auch untersucht, um welche Variante des Virus es sich handelt. Aktuell kommt bei solchen Analysen europaweit meist dasselbe Ergebnis heraus: die Deltavariante – sie ist weitaus ansteckender als andere Varianten. Dafür reicht es aus, einzelne charakteristische Gen-Abschnitte zu identifizieren, die für die verbreiteten Virusvarianten typisch sind. „Weil nur wenige Gen-Abschnitte nötig sind, um eine gängige Virusvariante zu erkennen, nehmen Labore es in der Regel in Kauf, wenn andere Gen-Abschnitte nicht identifiziert werden“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Jörn Kalinowski, Genetiker am CeBiTec. Um die komplexen Adaptionsprozesse des neuen Virus an seinen neuen Wirt genau zu erfassen braucht es aber die Sequenzierung des kompletten Gens. Dies besteht bei Sars-CoV2 aus ca. 30.000 Basen. Bei der Ermittlung der Basensequenz helfen Programme der Bioinformatik, die Sequenzen anhand von Referenzsequenzen rekonstruieren. Wenn – verglichen mit der Referenzsequenz – nicht eindeutig ermittelt werden kann, welche Base oder Basensequenz in diesem Genomabschnitt vorliegt, schreibt die Software als Platzhalter ein N. Das führte bei den gängigen Verfahren zu systematischen Fehlern, bei denen größere Genomlücken nicht erkannt werden. Denn eine solche Lücke im Genom ist ein wichtiger Anhaltspunkt, wenn es um die künftige Gefährdung durch das Coronavirus geht.

Entdeckt wurde die Gen-Lücke durch Analysen von Viren-Proben aus dem EvKB. Seit April 2020 wertet die Arbeitsgruppe Proben aus dem Klinikum aus, wo medizinisches Personal und Patientinnen und Patienten kontinuierlich auf COVID-19-Infektionen getestet werden. „Die detaillierte Analyse der Proben ermöglicht uns, Infektionsketten zu rekonstruieren“, sagt Dr. Christiane Scherer, Oberärztin und Leiterin der Mikrobiologie im EvKB und Co-Autorin der Studie. Auf dem Höhepunkt der zweiten Infektionswelle stellten sie und ihr Team im Januar und Februar 2021 ein Infektionscluster fest. Die Infektionen wurden durch aufwendige Screenings und Kontaktverfolgung eingedämmt. Die Virusvariante B.1.1.294 konnte sich auf den Stationen nicht weiterverbreiten. Die CeBiTec-Analysen bestätigten, dass die Abschottungsmaßnahmen auf den betroffenen Stationen erfolgreich waren. „Wir konnten das so genau sagen, weil wir eine Besonderheit der Virusvariante entdeckt haben: In ihrem genetischen Code fehlen 168 Nukleotide“, berichtet Prof. Kalinowski. Die genetischen Informationen sind mutmaßlich mit dafür verantwortlich, dass es dem Virus gelingt, die Immunreaktion von Infizierten zu verzögern.

Nachweisen konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die fehlenden Nukleotide, weil sie Genabschnitts-übergreifende Anreicherungsmethoden vor der Nanoporen-Sequenzierung einsetzen. Mit den Spezialverfahren lassen sich längere Gen-Abschnitte bestimmen als mit den üblichen Sequenziermaschinen. Außerdem haben die Forschenden eine frei verfügbare Software zur Gen-Analyse um eine Funktion ergänzt, die fehlende Nukleotide in Gen-Sequenzen nicht mit Platzhalter N befüllt, sondern sie korrekt erkennt und kennzeichnet. „Durch diese Analyse ließ sich nicht nur das Cluster in unserem Klinikum feststellen“, sagt Dr. Scherer. „Wir konnten auch absichern, dass die Virusvariante bei uns in eine Sackgasse geraten ist und sich nach der Eindämmung niemand mehr damit angesteckt hat.“

Die CeBiTec-Forschenden wollen auch anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, fehlende Gen-Abschnitte in Sars-CoV-2-Varianten präzise zu ermitteln. Dafür stellen sie ihre Weiterentwicklung der Analysesoftware samt Quellcode im Internet zur Verfügung.

Übrigens: Von dem fehlenden Gen-Abschnitt wird vermutet, dass er dazu beiträgt, die Abwehrreaktion im menschlichen Körper zu verzögern. Fehlt er, besteht die Chance, dass das Virus weniger schwerwiegende Krankheiten verursacht.