Klarstellung: „Ermordet in Bethel?“

Selbst bei Büchern in Wissenschaftsverlagen ist man inzwischen vor Falschbehauptungen und Desinformationen nicht mehr geschützt. Besonders deutlich wird das in dem Buch „Ermordet in Bethel?: Neue Forschungen zu Säuglingssterblichkeit und Hirnforschung in der NS-Zeit“, herausgegeben von Barbara Degen, Marion Keßler und Claus Melter, erschienen im November 2024 im Verlag Beltz Juventa.

Die beiden Herausgeberinnen und der Herausgeber sind auch gleichzeitig die Autoren und Autorinnen der drei Aufsätze. Das Buch folgt der weltweit zu beobachtenden Methode von Populisten, Falschbehauptungen ohne Belege so lange zu wiederholen, bis sie sich in den Köpfen festsetzen.

Gegen Falschinformationen hilft nur eins: eine fundierte inhaltliche Klarstellung.

Der Grundgedanke des Buches ist: In der NS-„Euthanasie“ wurden im Betheler Kinderkrankenhaus Sonnenschein akut erkrankte Kinder und Säuglinge ermordet. Gibt es hierfür Belege?

Belege, Quellennachweise oder wissenschaftlich fundierte Analysen gibt es für diese Behauptung nicht.

Als vorgeblicher Beweis für die Ermordung wird die jährliche Sterberate im Kinderkrankenhaus angeführt. Laut der Autoren sei diese „hoch“, also müsse es Mord gewesen sein.

Fakt ist, dass Fachwissenschaftler und Fachwissenschaftlerinnen, die seit Jahrzehnten zum Themenkomplex von Kranken- und Behindertenmorden forschen, bei all ihren Recherchen in nationalen und internationalen Archiven noch niemals auf Dokumente über „Kindereuthanasie“ in Bethel gestoßen sind.

Es ist somit eine reine Behauptung der Autoren – ohne Nachweis oder Analyse –, dass Kinder und Säuglinge, wohlgemerkt ohne eine Behinderung, allein wegen einer akuten Erkrankung, in der NS-„Euthanasie“ in Bethel ermordet wurden.

Kann die NS-„Euthanasie“ auf akut erkrankte Kinder und Säuglinge in Allgemeinkrankenhäusern übertragen werden?

Ohne jegliche Erläuterung übertragen die Autoren und Autorinnen die NS-„Euthanasie“ von Heil- und Pflegeanstalten auf Allgemeinkrankenhäuser. Dieses Vorgehen ist wissenschaftlich gesehen unhaltbar.

Der NS-„Euthanasie“ fielen Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen zum Opfer. Es gibt in der historischen Forschung keinerlei Erkenntnisse, dass auch akut erkrankte Kinder von den Nationalsozialisten in die „Euthanasie“ einbezogen wurden.

War die Sterblichkeit im Kinderkrankenhaus in der Zeit des Nationalsozialismus „hoch“?

Bereits die Grundannahme einer hohen Sterberate ist wissenschaftlich nicht haltbar. Sie wurde im Jahr 2016 durch historische Forschungen als falsch widerlegt. Damit basiert das gesamte Buch auf einer Falschbehauptung.

Der Historiker Dr. Karsten Wilke kam 2016 in seiner wissenschaftlichen Studie zu dem Schluss: „Niemand kann derzeit sagen, ob ‚Sonnenscheins‘ Sterblichkeitsraten hoch, durchschnittlich oder möglicherweise sogar niedrig sind.“ Der Grund dafür: Es gibt keine validen Vergleichsstudien zu anderen Kinderkrankenhäusern (Wilke S.116).

Solange es keinen Vergleich mit anderen Kinderkrankenhäusern gibt, ist es wissenschaftlich unzulässig, überhaupt von „hoch“ zu sprechen.

Gilt die These aus der Forschungsliteratur, bei einer jährlichen Sterberate ab 20 Prozent sei von „Euthanasie“-Morden auszugehen?

Diese empirischen Forschungen basieren ausschließlich auf Heil- und Pflegeanstalten und haben nichts mit Akutkrankenhäusern zu tun. Eine Übertragung dieser Forschungsergebnisse auf ein Kinderkrankenhaus, wie es in dem Buch geschieht (S.31, 86, 89, 224f, 228, 248f), hat daher keine Aussagekraft.

In Heil- und Pflegeanstalten wurden Kinder und Erwachsene mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen versorgt. Diese hatten in der Regel keine interkurrenten Erkrankungen. Dagegen wurden in Allgemeinkrankenhäusern, wie im Betheler Kinderkrankenhaus Sonnenschein, Patienten und Patientinnen mit schweren akuten Erkrankungen aufgenommen, oftmals mit einem hohen Sterberisiko. Zusätzlich lag ein Schwerpunktbereich des Hauses bei der Versorgung von Frühgeborenen. Das weitläufige Einzugsgebiet war der gesamte Regierungsbezirk Minden. In den 1930er und 1940er Jahren war die häusliche Versorgung von kranken Kindern die Regel. Eine Krankenhauseinweisung erfolgte nur bei schwere Krankheitsverläufen, wie Lungenentzündung, Tuberkulose oder Ernährungsstörungen. Dass daher die Sterberate eines Kinderkrankenhauses per se, zumal in den letzten entbehrungsreichen Kriegsjahren mit akuter Mangelversorgung, höher anzusetzen ist und sie keinesfalls mit Heil- und Pflegeanstalten verglichen werden kann, erklärt sich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch mit dem gesunden Menschenverstand.

Indem historische Ergebnisse zu Heil- und Pflegeanstalten ohne Erklärung auf Allgemeinkrankenhäuser übertragen werden, wollen der Autor und die Autorinnen den Anschein erwecken, es gäbe tatsächlich eine analytische Vergleichbarkeit.

In dem Buch findet keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen zum Thema der NS-„Euthanasie“ im Betheler Langzeitbereich Behindertenhilfe, Epilepsie und Psychiatrie statt. Geht das?

Der analytische Vergleich zwischen dem Kinderkrankenhaus und den bestehenden Forschungsergebnissen zum Langzeitbereich hätte wissenschaftlich gesehen zwingend durchgeführt werden müssen.

Seit 40 Jahren arbeiten Expertinnen und Experten zu allen Facetten des Nationalsozialismus in Bethel. Auch zum Langzeitbereich, der zu der damaligen Zeit etwa 3.000 Plätze umfasste. Nach zahlreichen wissenschaftlich evaluierten Studien gibt es längst einen Forschungskonsens zu den nationalsozialistischen Krankenmorden: Die Fachwissenschaftler und Fachwissenschaftlerinnen konnten keine systematischen Tötungen in Bethel im Rahmen der NS-„Euthanasie“ nachweisen.

In dem Buch werden die vorhandenen Forschungen ignoriert und die Forschenden als „Bethel-affin“ (S.225f) abgewertet. Die wissenschaftlich gebotene Vergleichsanalyse fehlt. Die Frage ist doch: Wenn es nachweislich im Betheler Langzeitbereich, in dem Menschen mit schweren Behinderungen gelebt haben, keine „Euthanasie“-Morde gegeben hat, warum sollen dann im Allgemeinkrankenhaus akut erkrankte Kinder ermordet worden sein?

Ist es üblich, historische Experten und Expertinnen einfach abzuwerten, ohne sich mit deren Forschungsinhalten auseinanderzusetzen?

Unabhängige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die seit Jahrzehnten zu NS-Kranken- und Behindertenmorden und zur Medizingeschichte forschen, werden in dem Aufsatz von Claus Melter als „Bethel-affin“ abgekanzelt (S.225f). Solch ein Vorgehen zeigt, dass sich die Autoren Melter und Degen außerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses bewegen und populistische Methoden und Narrative bedienen.

In Bethel ist vielfach historisch geforscht worden, die Quellenlage im Hauptarchiv Bethel ist gut, und als größte diakonische Einrichtung ist das damalige Handeln, Agieren und Entscheiden ein wichtiges Forschungsgebiet.

Laut Buch seien im Betheler Kinderkrankenhaus im Nationalsozialismus Säuglinge, Kinder, Schwangere und Embryonen zum Zweck der Hirnforschung ermordet worden? Gibt es hierfür Belege?

Die Autorin bringt hierfür keine validen Belege oder Nachweise. De facto findet sich in ihrem Aufsatz kein einziger Satz zur Hirnforschung oder zu „Medizinexperimenten“ im Nationalsozialismus in Bethel.

Der Aufsatz von Barbara Degen (S.95-181) ist lediglich Konstruktion: Ergebnisse der Epilepsieforschung der späten 1960er und der 1970er Jahre werden in die Zeit des Nationalsozialismus hineinprojiziert. Inhaltliche Bezüge zum Nationalsozialismus bestehen nicht. Sie werden nur über Rhetorik geschaffen.

Der Leserschaft werden medizinische Forschungsergebnisse aus einer vollkommen anderen Zeit, nämlich der späten 1960er und 1970er Jahre, als Beweisführung für den Nationalsozialismus präsentiert. Obwohl dies jeglicher Rationalität widerspricht.

Fakt ist, dass ein umfängliches Projekt der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum „Alltag in Bethel zwischen 1924 und 1949“ gearbeitet hat. Bei diesen historischen Forschungen hat es keinerlei Hinweise zu Hirnforschungen oder Medizinexperimenten in der NS-Zeit gegeben. Über 2.000 Patientenakten aus den Bereichen Epilepsie, Behindertenhilfe und Psychiatrie wurden ausgewertet. Hätte es Anhaltspunkte auf Hirnforschungen oder Medizinexperimente im nationalsozialistischen Unrechtskontext gegeben, so hätten die Forschenden es bemerkt, weitere Untersuchungen dazu angestellt und veröffentlicht. Aber das war nicht der Fall.

Obwohl sogar der Untertitel des Buches impliziert, es ginge um Hirnforschung in der NS-Zeit in Bethel, steht in dem Buch faktisch nichts dazu.

Kann man die Säuglingssterblichkeit im gesamten Deutschen Reich mit der Sterblichkeit in einem einzelnen Kinderkrankenhaus vergleichen?

Das ist statistisch-methodisch nicht zulässig. Die Säuglingssterblichkeit im gesamten Deutschen Reich kann man nicht in Beziehung setzen zu einem Kinderkrankenhaus, wo schwer akut erkrankte Kinder, Säuglinge und Frühgeborene mit einem hohen Sterberisiko behandelt wurden.

Logischerweise potenziert sich in Krankenhäusern die Sterblichkeit, daher ist keine Korrelation mit der Reichsebene gegeben. Auch müssen inhaltliche Aspekte zur Funktion eines Kinderkrankenhauses einbezogen werden. Im Untersuchungszeitraum wurden nur Kinder und Säuglinge mit schweren Erkrankungen, z.B. Lungenentzündung, Tuberkulose oder Ernährungsstörungen überhaupt in ein Kinderkrankenhaus eingewiesen. Der Einzugsbereich des Betheler Kinderkrankenhauses Sonnenschein umfasste den gesamten Regierungsbezirk. Zudem galt das Haus als Spezialklinik für Frühgeburten. Auch in solchen Fällen war die Einweisung durch Ärzte in ein Krankenhaus gewissermaßen Ultima Ratio.

Mit diesem Vergleich soll nur der Anschein einer wissenschaftlichen Analyse erweckt werden, die aber weder statistisch noch inhaltlich möglich ist.

Ist die präsentierte „Dokumenten- und Faktorenanalyse“ ein Beleg für die systematische Tötung von Kindern und Säuglingen bis 1943?

Der hier gemachte kausale Zusammenhang zwischen den ausgeführten Faktoren und einer angeblichen Ermordung ist schlichtweg falsch.

Die Autorin Marion Keßler hat verschiedene Faktoren (S.38-94), wie „Ökonomische Faktoren“, „Bauliche Faktoren“ oder „Medizinische Faktoren“ zum Kinderkrankenhaus in Bethel dargestellt. Dass sie dabei nicht immer das Kinderkrankenhaus trifft, sondern eher allgemeine Aussagen zu Heil- und Pflegeanstalten und nicht zu Krankenhäusern macht, sei einmal dahingestellt. Die Autorin kommt zu dem Schluss: „Die Umstände im Haus ‚Sonnenschein‘ waren so gut, dass diese eine so hohe Sterblichkeit nicht rechtfertigen.“ Demnach kann die Ursache für die Sterblichkeit ausschließlich die Beteiligung Bethels am „Euthanasie“-Mordprogramm gewesen sein (S.88).

Die Faktorenanalyse wirkt auf den ersten Blick nicht uninteressant. Wäre da nicht der grundlegende Denkfehler: Die Säuglinge und Kinder haben sich ihre Krankheiten, wie Lungenentzündung, Tuberkulose oder Ernährungsstörungen nicht etwa aufgrund baulicher, medizinischer oder sonstiger Mängel im Kinderkrankenhaus geholt, sondern sie hatten diese Krankheiten schon Zuhause und wurden wegen dieser ins Kinderkrankenhaus eingeliefert. Tatsächlich relevante gesellschaftliche Faktoren zur Funktion des Krankenhauswesens im Untersuchungszeitraum, wie Karsten Wilke sie 2016 in seiner Forschung zum Betheler Kinderkrankenhaus angeführt hat, werden nicht berücksichtigt.

Mit der „Dokumenten- und Faktorenanalyse“ soll wiederholt der Anschein einer wissenschaftlich-analytischen Nachprüfbarkeit erweckt werden. Sie ist wissenschaftlich gesehen unhaltbar.

Hat die historische Forschung bereits wissenschaftlich zum Kinderkrankenhaus in Bethel gearbeitet?

Seit 2016 liegt zum Kinderkrankenhaus Sonnenschein eine historisch-wissenschaftlich Studie für der Zeit 1929 bis 1950 vor, die keinen Ansatzpunkt für eine systematische Tötung von Säuglingen und Kindern ergab.

Der Historiker Dr. Karsten Wilke hat alle vorhanden Quellen in verschiedenen Archiven erforscht, eine Datenbank mit über 3.000 statistischen Datensätzen aufgebaut und diese quantitativ und qualitativ analysiert. Entstanden ist eine 70-seitige Studie. Logisch werden die Ursachen für die Sterblichkeit anhand der Kriegssituation, der Anfahrtswege oder der Auslagerung in einen ländlich gelegenen Nicht-Zweckbau erläutert.

Bereits seit 2016 gilt damit das Betheler Kinderkrankenhaus Sonnenschein als eines der am besten wissenschaftlich erforschten Allgemeinkrankenhäuser während der NS-Zeit. Was allerdings fehlt, und auch schon von Wilke gefordert wurde, sind historisch fundierte Vergleichsstudien zu anderen Kinderkrankenhäusern.

Gibt es allgemein zu Bethel im Nationalsozialismus Forschungen?

Seit 40 Jahren haben Experten und Expertinnen zu allen Facetten des Nationalsozialismus in Bethel gearbeitet. Über 200 Veröffentlichungen sind bisher erschienen. Die kritische Aufarbeitung der Geschichte und die transparente Darstellung in der Öffentlichkeit ist den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel ein hohes Gut.

Deshalb gibt es verschiedene Informationsmöglichkeiten, vom raschen Zugang bis hin zur umfassenden Bibliografie.

Was tut Bethel um die Öffentlichkeit über die Falsch- und Desinformationen zu informieren?

Zunächst einmal gibt es gründliche historische Forschung zum Kinderkrankenhaus Sonnenschein in der NS-Zeit, basierend auf Quellen und faktenreicher Analyse. Diese liegt bereits seit 2016 vor und ist im Internet einsehbar.

Auch andere Themenfelder zum Nationalsozialismus in Bethel sind bereits gründlich erforscht.

Zu Veröffentlichungen der Autoren Barbara Degen und Claus Melter von 2014 und 2020 liegen eine gründliche Stellungnahme bzw. Rezension vor, ebenfalls im Internet zugänglich.

Für Interessierte ist damit jede Möglichkeit geschaffen, sich gründlich und differenziert zu informieren.

Gab es zuvor bereits Veröffentlichungen mit vergleichbaren Behauptungen zu „Euthanasie“-Morden im Betheler Kinderkrankenhaus?

Seit 2014 verbreiten die Autoren Dr. Barbara Degen und Prof. Dr. Claus Melter, akut erkrankte Kinder und Säuglinge seien in der NS-„Euthanasie“ im Betheler Kinderkrankenhaus Sonnenschein ermordet worden. Zudem sei das Betheler Kinderkrankenhaus eine „Kinderfachabteilung“ im Rahmen der „Kindereuthanasie“ gewesen.

Das Muster in den vorangegangenen Buchveröffentlichungen von 2014 und 2020 ist das gleiche: Es werden keinerlei Belege, Quellennachweise oder wissenschaftlich fundierte Analysen erbracht. Auch wurden die zehn Jahre nicht für weiterführende Forschungen genutzt.

Wie hat Bethel reagiert, als bekannt wurde, dass 2024 erneut ein Buch zu „Euthanasie“-Morden an akut erkrankten Kindern- und Säuglingen erscheint?

Aufgrund der Erfahrungen mit den vorangegangenen Veröffentlichungen hatte sich die Stiftung Bethel entschlossen, Kontakt mit dem Verlag Beltz Juventa aufzunehmen. Einem Wissenschaftsverlag sollte die hohe Verantwortung bei der Herausgabe von Büchern bewusst sein.

Dennoch erschien das Buch am 17. Juli 2024. Im Haupttitel ohne Fragezeichen. Kurz danach hat der Verlag das Buch zunächst vom Markt genommen, selbst ein Fragezeichen hinter dem Haupttitel vorgeschlagen und Interesse geäußert, die wissenschaftlichen Fehler und die Falschinformationen, die ihnen Bethel in einer umfangreichen Stellungnahme mitgeteilt hatte, zu korrigieren. Diese Chance wurde vom Verlag Beltz Juventa, vom Autor und den Autorinnen nicht genutzt. Nur ein Bruchteil wirklich grober Fehler wurde in der Neufassung von November 2024 korrigiert. An dem komplett falschen Argumentationsweg und der Gedankenführung wurde gar nichts verändert. Das ist für alle, denen Forschung und Wissenschaft wichtig ist, eine große Enttäuschung.

Haben der Verlag Beltz Juventa und die Autoren wenigstens offensichtliche Fehler in der Neufassung von November 2024 im Vergleich zur Erstfassung im Juli korrigiert?

Selbst sehr offensichtliche Fehler wurden in der Neufassung beibehalten, obwohl Bethel diese in einer umfangreichen Stellungnahme an den Verlag Beltz Juventa kommuniziert hatte.

So wird weiterhin ein mehrseitiges „aufschlussreiches“ Dokument aus dem Stadtarchiv Bielefeld abgedruckt, das angeblich aus dem Jahr 1940 stammen soll. Allerdings ist auf jeder Seite das Menü- und Registerband von Microsoft Office zu sehen (S.170-178). Dies war 1940 natürlich nicht möglich. Somit kann es schlichtweg kein Dokument aus dem Jahr 1940 sein, es wird aber als ein solches ausgegeben.

Ebenso wurde eine Statistik zur prozentualen Säuglingssterblichkeit von 1941 bis 1945 im Berliner „Kaiserin Auguste Victoria Haus“ (KAVH) fingiert: Da keine absoluten Zahlen zur Säuglingssterblichkeit für das KAVH vorliegen, wurden kurzerhand die Zahlen der verstorbenen Säuglinge aus dem Kinderkrankenhaus der Charité genommen. Die daraus errechnete prozentuale Säuglingssterblichkeit wurde in der Neufassung zwar nicht mehr abgedruckt, jedoch verblieb die Spalte mit der absoluten Zahl von verstorbenen Kinder in der Statistik. Der Leserschaft wird somit immer noch verschwiegen, dass Zahlen zweier unterschiedlicher Kinderkrankenhäuser miteinander vermischt wurden (S.253).

Darüber hinaus werden die Zahlen der Zwangssterilisationen, in den verschiedenen Aufsätzen, weiterhin komplett falsch und unterschiedlich angegeben. So sollen es laut Autorin Keßler allein bis zum Jahr 1936 bereits insgesamt „2.854 Bewohner*innen“ gewesen sein (S.66). Autorin Degen gibt für den Zeitraum 1933 bis 1945 als Zahl „ca. 2.000“ an (S.115). Obwohl es zu dem Thema der Zwangssterilisationen valide durchgeführte historische Forschungen gibt, welche digital rasch zugänglich sind, haben sich Verlag und Autorinnen auch hier dafür entschieden die Fehler beizubehalten.

Verändert wurde hingegen die Falschbehauptung der Autorin Barbara Degen – wie sie leider auch vielfach im Internet zu finden ist –, sie erhalte „keine Genehmigung“ zur Nutzung des Hauptarchivs Bethel. In der neuen Fassung von November 2024 heißt es nun: „wurde mir erschwert“ (S.96). Dies bleibt dennoch eine Falschbehauptung. Fakt ist, dass die Autorin gar keine Nutzung angefragt hatte.

Komplett gestrichen wurde immerhin der Satz: „Degen (2014, S. 36) konnte jedoch anhand der Totenscheine des Kinderkrankenhauses ‚Sonnenschein‘ herausfinden, dass kaum einer der gestorbenen Säuglinge Muttermilch durch Stillen oder Abpumpen erhalten hat.“ (Seite 54 in der Fassung von Juli 2024). Hiermit wollte die Autorin Marion Keßler eine empirische Belegbarkeit für die Sterblichkeit im Kinderkrankenhaus Sonnenschein suggerieren. Diese ist durch „Totenscheine“ keinesfalls nachzuweisen, da hier natürlich nicht vermerkt wurde, wie Säuglinge zu Lebzeiten ernährt wurden. Dass Autorin Degen bereits in ihrer Veröffentlichung 2014 diese Falschinformation verbreitet hat, und damit ebenfalls empirische Belegbarkeit suggerieren wollte, ist unseriös genug. 

Welche Folgen kann solch ein Buch für die historische Forschung haben?

Auch wer sich fachfremd mit historischen Themen beschäftigt und dazu publiziert, muss sich an wissenschaftliche Standards halten. Absoluter Mindeststandard ist es, Belege und Nachweise für gemachte Aussagen zu liefern.

Bei historischen Themen ist der Beleg in der Regel die Primärquelle. Wenn der Quellenbeleg aber nicht mehr zählt oder lediglich der Anschein von angeblich vorhandenen Belegen erweckt wird, dann wird in letzter Konsequenz Geschichte als Wissenschaft ausgehebelt. Wenn Behauptungen und Spekulationen unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit dargestellt und wie Forschungsergebnisse präsentiert werden, dann unterliegt zukünftige Nachwuchsforschung der Gefahr, darauf aufzubauen. Hier hat es der Verlag Beltz Juventa unterlassen, seiner Lektoratspflicht nachzukommen.

Zudem sollen geschichtswissenschaftliche Ergebnisse in die Gesellschaft hineinwirken. Geschichtliches Wissen ist ein wichtiger Teil der Demokratiebildung. Durch Veröffentlichungen, die gezielt Falsch- und Desinformationen verbreiten, verliert die Geschichte in der Öffentlichkeit an Vertrauen. Sie gefährden damit die Rolle von Geschichte im Rahmen der Demokratiebildung.

Darf man mit NS-Verbrechen so umgehen?

Für all die Opfer von NS-Verbrechen ist es ein Affront, wenn in Veröffentlichungen schwere NS-Verbrechen behauptet werden, ohne dass sie stattgefunden haben.

Dass die Sachlage differenziert ist, ist angesichts der schrecklichen „Euthanasie“verbrechen und der Medizinexperimente die stattgefunden haben, schwer auszusprechen. Und dennoch ist genau das die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, um die Klarheit des Opferbegriffes zu behalten. Im „Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde ist das sehr deutlich formuliert (S.172).