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"Unternehmen in die Pflicht nehmen"

Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) gibt es auch in Bethel seit der Nachkriegszeit. Aufgrund ihrer seither kaum veränderten Strukturen geraten sie bundesweit immer häufiger in die Kritik. Diese greift jedoch meist zu kurz und berücksichtigt nicht alle Fakten, wie Michaela Diesen und Wolfgang Ludwig aus der Geschäftsleitung des Stiftungsbereichs proWerk wissen. Im Interview erläutern sie, warum dennoch ein Wandel der Werkstätten sowie eine Reform des Arbeitsmarktes im Sinne von Inklusion erforderlich sind. 

Frau Diesen, Herr Ludwig, Kritiker sehen in den Werkstätten ein überholtes System. Der Vorwurf: schlechte Bezahlung und mangelhafte Inklusion. Ist das berechtigt?

Michaela Diesen: Unsere Gesellschaft hat sich seit den ersten WfbM-Gründungen stark verändert – stärker als die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Deshalb besteht Nachholbedarf, der durch das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes politisch anerkannt wird. Jetzt liegt eine Forschungsstudie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vor, in der es um das Entgeltsystem für Beschäftigte in WfbM und um ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt geht. Die Frage ist, was die Politik daraus macht. Mehr Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen, wie die Politik es fordert, ist richtig. Dabei aber nur auf die Werkstätten zu gucken greift zu kurz. Man muss auch Inklusionsunternehmen und den ersten Arbeitsmarkt in den Blick nehmen.

Wolfgang Ludwig: Die Kritik ist mir auch zu simpel. Wenn es genügend Alternativen zu WfbM gäbe und der erste Arbeitsmarkt wirklich inklusiv wäre, bräuchten wir Werkstätten nicht mehr. Das sehen wir aber aktuell überhaupt nicht. Viele Arbeitgeber sind noch nicht bereit. Außerdem muss man berücksichtigen, was Wunsch und Wille der Menschen mit Behinderung ist. Gerade diejenigen mit hohem Unterstützungsbedarf würden derzeit ohne die WfbM oder vergleichbare Strukturen auf der Strecke bleiben. Ohne Tagesstruktur und soziale Kontakte würden sie vereinsamen, wie wir es während der Corona-Pandemie, als Werkstätten geschlossen waren, erlebt haben. Das wäre ein riesiger Rückschritt in der Inklusion.

Langfristig betrachtet halten Sie einen wirklich inklusiven Arbeitsmarkt, der gesonderte Werkstätten überflüssig macht, für möglich?

Wolfgang Ludwig: Wenn Sie sich die Entwicklung im Wohnen angucken, sehen Sie ja, wohin es geht. Der Abschied von großen Sonderwelten, der Aufbau von dezentralen, ambulanten Angeboten ist ein Prozess, der sich inzwischen über 30 Jahre hinzieht. Auch in den Werkstätten wird das ein langer Prozess sein. Eine Kombination aus inklusivem Arbeitsmarkt und gezielten Angeboten zur beruflichen Rehabilitation sehe ich als sinnvoll an.

 

Wie kann Ihrer Meinung nach eine dafür notwendige Reform des Arbeitsmarktes gelingen?

Michaela Diesen: Unternehmen müssen in die Pflicht genommen werden, eine Infrastruktur zu schaffen für Menschen mit Assistenz- oder Unterstützungsbedarf. Jetzt ist dafür ein guter Zeitpunkt. Die öffentlichen Kassen sind leer, der ökonomische Druck ist groß. Durch den Arbeitskräftemangel ergeben sich echte Chancen für Menschen mit Behinderung.

Wolfgang Ludwig: Wenn man Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, mit einer Ausgleichsabgabe belegt, ist das nur eine Seite der Medaille. Die andere muss es sein, Unternehmen deutlicher zu machen, welchen Gewinn Menschen mit Behinderung für sie darstellen. Nicht nur hinsichtlich der Unternehmenskultur, auch ökonomisch. Man sollte ihre Leistung nicht unterschätzen.

Wie viele der in WfbM beschäftigten Menschen wagen jährlich den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt?

Michaela Diesen: Da sprechen wir bundesweit über weniger als ein Prozent.

 

Was muss sich ändern, damit es mehr werden?

Wolfgang Ludwig: Beschäftigte, die auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchten, bekommen von uns die notwendige Unterstützung. Es zeigt sich aber, dass die Bereitschaft, diesen Schritt zu gehen, abnimmt. Das hat auch mit einem Hospitalisierungseffekt zu tun, mit dem sich die Werkstätten beschäftigen müssen. Mehrere Studien belegen das. Das heißt für mich, dass wir beim Einstieg in die berufliche Bildung besser werden können, damit es einen Weg direkt aus der beruflichen Bildung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geben kann. Aber der entscheidende Faktor ist für mich das Wunsch- und Wahlrecht der Beschäftigten. Wenn Beschäftigte in der Werkstatt sagen: Das hier ist genau die richtige Tätigkeit, das ist das richtige Umfeld für mich, dann müssen die Politik und wir das akzeptieren.

Was ist aus Ihrer Sicht außerdem nötig, damit Menschen mit Behinderung eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt finden?

Wolfgang Ludwig:  An manchen Stellschrauben ist ja schon gedreht worden. Beispielsweise bei den Lohnkostenzuschüssen. Die sind jetzt dank einer sinnvollen Gesetzesänderung nicht mehr gedeckelt. So trauen sich Unternehmen eher zu sagen: Wir probieren das mal aus mit Menschen mit Behinderung. Es gibt weiterhin ein Rückkehrrecht in die Werkstatt, dies sollte die Hürde für Menschen mit Behinderung senken, einen Versuch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unternehmen. Eine gegebenenfalls intensive Unterstützung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch individuelle Assistenz ist möglich, muss aber noch weiter ausgebaut werden.  

Michaela Diesen: Zum Thema Entlohnung: In dem aktuellen Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gibt es drei Empfehlungen. Erstens ein Basisgeld, wie es die Werkstatträte vorgeschlagen haben. Zweitens den gesetzlichen Mindestlohn, was bedeuten würde, dass man den arbeitnehmerähnlichen Rechtsstatus der Beschäftigten aufhebt. Und drittens die Erhöhung der öffentlich finanzierten Leistungen wie beispielsweise das Arbeitsförderungsgeld.

Beschäftigte in WfbM erhalten nicht den Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde, sie gehen am Monatsende trotz 40-Stunden-Woche mit wenigen hundert Euro oder noch weniger nach Hause. Ist das angemessen und fair?

Michaela Diesen: Was häufig verwechselt oder außer Acht gelassen wird: Es handelt sich nicht um einen Lohn, sondern um ein Arbeitsentgelt oder eine Prämie. Das System der Werkstätten ist nicht darauf angelegt, von einem Lohn zu leben. Vielmehr sprechen wir von einer Prämie, die zu einer Sozialleistung wie der Grundsicherung oder der Rente hinzukommt. Grundsätzlich ist die Frage, was ein gerechter Lohn ist, sehr komplex und schwierig zu beantworten. In den Werkstätten gibt es für alle einen Grundbetrag und je nach Arbeitsleistung einen Steigerungsbetrag.

Wolfgang Ludwig: Das Arbeitsentgelt muss durch die Produktionserlöse der Leistungsstärkeren erwirtschaftet werden. Das ist der Teil, den ich ungerecht finde. Positiv ist, dass auch Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf den Grundbetrag erhalten.

Erschwert wird die angestrebte Durchlässigkeit auch dadurch, dass der Rentenanspruch von WfbM-Beschäftigten in Höhe von 80 Prozent des durchschnittlichen Rentenniveaus aller Arbeitnehmer in Deutschland nicht mehr besteht, wenn sie auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln.

Michaela Diesen: Das stimmt. Meine Meinung: Wenn wir über Inklusion sprechen, sprechen wir auch darüber, Privilegien abzuschaffen – auch die 80-Prozent-Regelung für WfbM-Beschäftigte.

Wolfgang Ludwig: Wenn man eine grundlegende Veränderung des Werkstattsystems möchte, muss man da ran. Genauso an die Erwerbsunfähigkeits- und Erwerbsminderungsrente: Kann es nicht trotzdem möglich sein, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten? Ich finde, das ist vor allem eine Frage der notwendigen und auch finanzierten Assistenz, die ein Mensch am Arbeitsplatz erhält.

 

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, WfbM hätten wenig bis kein Interesse daran, qualifizierte Beschäftigte auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, weil das dem Ergebnis abträglich sei?

Michaela Diesen: Eine WfbM hat drei Aufträge: Sie muss wirtschaftlich sein, Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen und genauso Rehabilitationsangebote machen. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem wir abwägen müssen, was zu tun ist. Konkret: Wenn es leistungsstarke Menschen gibt, die in den ersten Arbeitsmarkt möchten, unterstützen wir das und müssen gleichzeitig die Auftragsbearbeitung der Kunden sicherstellen. Wir können dann keine neuen Mitarbeitenden einstellen. In diesem Dilemma steht jede WfbM. Das kann nur politisch aufgelöst werden.

Wolfgang Ludwig: Ich könnte den Vorwurf verstehen, wenn ich von unseren Beschäftigten Beschwerden hören würde, dass wir sie auf ihrem Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu wenig unterstützen. Aber diese Stimmen höre ich nicht. Ich finde, das ist ein sehr einseitiger Vorwurf von Menschen, die mit Werkstätten wenig zu tun haben.

 

Interview: Philipp Kreutzer  | Fotos: Barbara Franke

So werden Werkstätten finanziert

In Deutschland müssen Arbeitgeber mit mindestens 20 Angestellten eine Ausgleichsabgabe an das zuständige Integrationsamt entrichten, sofern sie nicht mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Durch das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts wird die Abgabe zum 1. Januar 2024 von aktuell maximal 360 Euro monatlich pro unbesetztem Arbeitsplatz auf höchstens 720 Euro steigen. Die Ausgleichsabgabe wird ausschließlich für die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben eingesetzt und kommt Betrieben wie etwa Werkstätten für behinderte Menschen und deren Beschäftigten zugute. Mit dem Geld werden zum Beispiel Ausbildungs- und Arbeitsplätze eingerichtet und barrierefrei gestaltet. Arbeitgeber, die Werkstätten für behinderte Menschen Aufträge erteilen, können 50 Prozent des Gesamtrechnungsbetrags abzüglich der Materialkosten auf die zu zahlende Ausgleichsabgabe anrechnen.