„Wer es nicht will, der muss auch nicht auf der Straße leben.“ Herr Bohne, was sagen Sie jemandem, der diese Ansicht vertritt?
Thomas Bohne: Das ist eine gängige Meinung. Und die Aussage selbst ist insofern korrekt, als dass die Kommunen ordnungsrechtlich dazu verpflichtet sind, Übernachtungsstellen für wohnungslose Menschen anzubieten. Allerdings gibt es viele Angebote, die die Menschen nicht gerne nutzen; in denen sie nicht einmal für eine Nacht bleiben möchten. Viele ziehen es angesichts der Umstände in solchen Stellen vor, lieber draußen zu schlafen. Die Ausstattung ist oft schlecht, und es befinden sich zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Es gibt Städte, die behaupten, sie hätten gar kein Problem mit Wohnungslosigkeit – und deshalb bieten sie nur eine sehr begrenzte Anzahl an Plätzen an. Und andere Städte haben die Kapazitäten, aber vermeiden es bewusst, die Angebote „zu schön“ zu gestalten, weil sie fürchten, dass dann zu viele Menschen kommen.
Wäre das Problem der Wohnungslosigkeit gelöst, wenn jeder ein Dach über dem Kopf hätte?
Bohne: Es wäre jedenfalls dringend notwendig, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum vor allem in den großen Städten gibt. Es gibt aber auch andere Gründe dafür, dass Menschen auf der Straße leben – zum Beispiel, weil sie psychisch erkrankt sind. Oftmals ist es dann so, dass die Menschen ohne Behandlung sind und sich auch selbst nicht als erkrankt wahrnehmen. Wenn jemand in so einer Situation beschließt, auf der Straße zu leben, dann ist es meiner Meinung nach doch eine Entscheidung, die nicht ganz frei getroffen wurde. Trotzdem müssen wir im Bereich der Wohnungsnotfallhilfe respektieren, dass Menschen sich so entscheiden und zunächst keine andere Hilfe wollen – auch, wenn es für einen selbst schwer auszuhalten ist.
Warum landen Menschen sonst noch auf der Straße?
Bohne: Die Gründe sind vielfältig – und es gibt ganz unterschiedliche Schicksale. Menschen, die drogenabhängig sind, laufen Gefahr, ihre Wohnung zu verlieren; nicht nur, weil Drogen viel Geld kosten, sondern auch, weil sie die Persönlichkeit eines Menschen sehr negativ beeinflussen können. Andere sind vor einem Krieg geflüchtet oder kommen auf der Suche nach Arbeit zu uns. Wieder andere rutschen aufgrund einschneidender Lebensereignisse in die Wohnungslosigkeit – zum Beispiel durch den Tod eines Angehörigen. Ein Beispiel, das mir sehr präsent in Erinnerung geblieben ist, ist das eines Mannes, der Meister bei einem hiesigen Stahlunternehmen war. Als seine Ehefrau verstorben ist, hat die Trauer dazu geführt, dass er anfing zu trinken, und als er die Raten für seine Wohnung nicht mehr gezahlt hat, ist er auf der Straße gelandet. Über einen Tagesaufenthalt hat er dann Kontakt zu einem Beratungsangebot bekommen und konnte wieder in eine feste Wohnung ziehen. Später war er sogar für dieses Angebot als Ehrenamtlicher tätig und hat Menschen in Not auf der Straße angesprochen.
Haben sich die Gründe für Wohnungslosigkeit mit der Zeit verändert?
Bohne: Eine Beobachtung ist, dass viele Menschen in Krisensituationen zunehmend weniger in der Lage sind, die bürokratischen Schritte zu unternehmen, um eine Wohnung zu halten – sei es, weil sie in einer psychischen Ausnahmesituation sind, oder zum Beispiel auch, weil sie nicht die nötigen Sprachkenntnisse haben. Die gesellschaftliche Entwicklung geht immer mehr in Richtung Individualisierung. Gerade in den größeren Städten sind immer mehr Menschen alleine und ohne familiäre Unterstützung. Eine andere große Veränderung erleben wir durch die Armutsmigration aus Süd- und Osteuropa, die in den vergangenen 10 bis 20 Jahren deutlichzugenommen hat. Gesetzlich ist es so geregelt, dass diese Menschen, wenn sie auf der Suche nach Arbeit herkommen, meist keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. In der Auslegung vieler Städte schließt das auch den Anspruch auf eine Notunterkunft aus. Aber bevor sie wieder nach Hause fahren, übernachten viele von ihnen dann notgedrungen lieber auf der Straße.